Die Gründung des Max-Planck-Instituts für Mathematik in den Naturwissenschaften in Leipzig wurde vom Senat der Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften e. V. (MPG) im Juni 1995 beschlossen. Am 2. Oktober 1996 wurde in Leipzig das Max-Planck-Institut für Mathematik in den Naturwissenschaften eingeweiht.
Das neue Institut ist nach dem Max-Planck-Institut in Bonn das zweite Max-Planck-Institut in Deutschland, das sich den mathematischen Wissenschaften widmet. Das Anliegen des Instituts ist es, auf dem Gebiet der reinen und angewandten Mathematik zu forschen und den Ideenfluß zwischen der Mathematik und den Naturwissenschaften in beiden Richtungen zu fördern. Die historische Erfahrung zeigt, daß grundlegende Probleme der Physik, der Chemie, der Biologie und anderer Wissenschaften zu wichtigen neuen Entwicklungen in der Mathematik geführt haben, während die Mathematik ihrerseits einen tiefgreifenden Einfluß auf diese Gebiete ausgeübt hat. Beispielsweise führten Fouriers Untersuchungen der Wärmeleitungsgleichung zur Entwicklung der Theorie der Fourierreihen und allgemeiner zur Schaffung der harmonischen Analyse. Seine praktische Arbeit als Landvermesser inspirierte Gauss, einen der größten Mathematiker aller Zeiten, zu seiner Flächentheorie und zur Entwicklung der Differentialgeometrie, die heute die Grundlage der Einsteinschen allgemeinen Relativitätstheorie und des Standardmodells in der Elementarteilchenphysik bildet. Heisenbergs Formulierung der Quantenmechanik beschleunigte die Entwicklung der Funktionalanalysis, insbesondere der Spektraltheorie für Operatoren. Wichtige Ergebnisse zum Verhalten nichtlinearer dynamischer Systeme im Rahmen der Kolmogorov-Arnold-Moser-Theorie (KAM-Theorie) wurden durch Fragestellungen der Himmelsmechanik initiiert. Die moderne Theorie der sogenannten konzentrierten Kompaktheit hatte ihren Ursprung in der Problematik der Atombindungen. Schließlich wird das Standardmodell der Elementarteilchen im Rahmen von Eichfeldtheorien formuliert, die auf einer tiefen Synthese zwischen Physik, Geometrie (Topologie) und Analysis basieren.
Die Hauptgebiete der mathematischen Forschung an dem neuen Max-Planck-Institut werden Analysis, Geometrie und mathematische Physik sein. Ein zentrales Forschungsthema ist dabei die Theorie der nichtlinearen partiellen Differentialgleichungen. Zu den speziellen Schwerpunkten gehören
Die meisten dieser mathematischen Modelle führen auf partielle Differentialgleichungen mit starken Nichtlinearitäten, deren Lösungen Singularitäten besitzen oder komplizierte Oszillations- und Konzentrationseffekte beschreiben. In der Praxis entsprechen diesen mathematischen Effekten beispielsweise Schockwellen, Turbulenzen, Materialdefekte oder Mikrostrukturen, die man unter dem Mikroskop beobachtet. Ein besseres Verständnis dieser Phänomene erfordert eine ausgeklügelte Modellbildung und deren analytische Untersuchung, um die signifikanten mathematischen Objekte zu erkennen.
Das Zusammenwirken zwischen der Mathematik und den modernen Naturwissenschaften beinhaltet ein breites Spektrum an Themen, die einerseits Gebiete umfassen, die schon eine starke Wechselbeziehung mit der Mathematik besitzen, wie die statistische Physik, die Elementarteilchenphysik, die Kosmologie, die Himmelsmechanik oder die Kontinuumsmechanik und andererseits mit Forschungsfeldern zusammenhängen, deren Mathematisierung erst am Anfang steht, wie z. B. viele Fragen der Materialwissenschaften oder der Biologie.
Das Institut wird nur über einige wenige Dauerstellen für Wissenschaftler verfügen, dafür jedoch mit einem umfangreichen Gästeprogramm ausgestattet sein. Einen besonderen Platz nimmt die Stelle des "Sophus-Lie-Gastforschers" ein, die von führenden Naturwissenschaftlern im Wechsel für ein oder mehrere Semester besetzt werden soll, um den Ideenaustausch zwischen der Mathematik und den Naturwissenschaften zu fördern. Der Name für diese Gastforscherstelle wurde zu Ehren des norwegischen Mathematikers Sophus Lie (1842-1899) gewählt, der von 1886 bis 1898 in Leipzig arbeitete und dessen tiefgreifende Untersuchungen zur Mathematik der Symmetrie und ihrer Anwendungen auf Geometrie und Analysis einen entscheidenden Einfluß auf die Entwicklung der theoretischen Physik des 20. Jahrhunderts hatten.
Das Institut plant eine Zusammenarbeit mit führenden Forschungsinstituten in Europa und den USA. Ferner soll eine Zusammenarbeit mit den zahlreichen Universitäten der Region aufgebaut werden, insbesondere mit der Universität Leipzig. Mathematik und Physik haben eine lange Tradition an der Universität Leipzig, die 1409 gegründet wurde und zu den ältesten deutschen Universitäten gehört. Der wohl berühmteste Student der Leipziger Universität war Gottfried Wilhelm Leibniz. Das Leipziger Mathematische Institut wurde 1881 von Felix Klein gegründet. Weitere Mathematiker, die neben Lie und Klein in Leipzig arbeiteten, waren August Ferdinand Möbius, Carl Neumann, Adolf Mayer, Otto Hölder, Ernst Hölder, Paul Koebe, Leon Lichtenstein, Gustav Herglotz, Eberhard Hopf, Bartel van der Waerden, Erich Kähler, Herbert Beckert und Paul Günther - um nur einige von ihnen zu nennen. Zu den berühmten Naturwissenschaftlern, die an der Leipziger Universität wirkten, gehören Wilhelm Ostwald, Paul Flechsig, Wilhelm Wundt und Werner Heisenberg.
Das Max-Planck-Institut für Mathematik in den Naturwissenschaften ist - zusammen mit dem vorübergehend dort angesiedelten Max-Planck-Institut für neuropsychologische Forschung - im Reclam-Carree im Graphischen Viertel untergebracht. Dieser Gebäudekomplex verkörpert die Harmonie zwischen Geschichte und Zukunft. In ihm wirkte der bekannte Leipziger Verleger Anton Philipp Reclam, der 1867 die weltberühmte Universalbibliothek begründete. Während des Zweiten Weltkrieges nahm das Gebäude schweren Schaden. 1994 übernahm eine Hamburger Gesellschaft bürgerlichen Rechts den Gebäudekomplex und damit die Verantwortung, ihn unter denkmalpflegerischen Aspekten zu sanieren, zu rekonstruieren und zu restaurieren. Heute erstrahlt das Gebäude in seiner alten Pracht und bietet ideale Arbeitsbedingungen.