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25 Jahre

Episode 3 — „Dieses Institut ist ein wesentliches Stück meines Lebens“ – Interview mit Prof. Dr. Jürgen Jost

Veröffentlicht am 08.04.2021

Prof. Dr. Jürgen Jost gründete 1996 gemeinsam mit Prof. Dr. Eberhard Zeidler und Prof. Dr. Stefan Müller unser Institut und begleitete es als Direktor und Arbeitsgruppenleiter durch die gesamten 25 Jahre. Wir freuen uns sehr, dass er in diesem Interview einige Erinnerungen, Gedanken und Inspirationen mit uns teilt.

Prof. Jost, was fasziniert Sie an der Mathematik und was hat Sie bewogen, Mathematiker zu werden?

Die Mathematik ist ein sehr präzises Werkzeug des Denkens und erlaubt es mir, Konzepte zu entwickeln und Strukturen zu verstehen. Ich weiß, dies klingt zunächst sehr abstrakt. Auf die Frage, wie ich dazu gekommen bin, könnte ich natürlich sagen, Mathematik ist mir leichtgefallen oder ich war in der Schule immer gut in Mathematik, wie das bei den meisten Mathematikern so ist. Aber eigentlich ist es ein wenig anders. Ich wollte Wissenschaftler werden. Dass es dann tatsächlich die Mathematik wurde, ist ein wenig zufällig. Schon seit meiner Schulzeit war es immer mein Traum, die Realität und das, was uns umgibt, was die Materie, das Leben, das Bewusstsein und so vieles mehr ausmacht, zu verstehen. Ich habe zunächst in unterschiedlicher Tiefe und Breite verschiedene Fächer studiert: Mathematik, Physik, Volkswirtschaft und Philosophie. Und es ergab sich, dass ich in der Mathematik sehr schnell (und zwar im Alter von 23 Jahren) in einem sehr hoch aktuellen und sich rasant entwickelnden Forschungsgebiet promovieren konnte. Diese Chance habe ich ergriffen, bin dadurch Mathematiker geworden und habe mich viele Jahre der mathematischen Spezialforschung gewidmet, konkrete Probleme gelöst und somit meine Reputation als Wissenschaftler aufgebaut.

Sie kamen 1996 von der Ruhr-Universität Bochum an ein Max-Planck-Institut im Osten Deutschlands und haben Ihren Lebensmittelpunkt komplett nach Leipzig verlegt. Was bedeutete dies für Sie und ihre Familie?

Ein Max-Planck-Institut zu gründen und Max-Planck-Direktor zu werden ist natürlich eine große Chance. Eine solch herausgehobene und gut ausgestattete wissenschaftliche Stelle findet man praktisch nirgendwo anders auf der Welt. Diese Chance habe ich sehr gern ergriffen, ein wenig zum Leidwesen meiner Eltern, die hofften, dass ich in ihrer Nähe bleiben würden und eine der mir angebotenen Universitätsprofessuren angenommen hätte. Aber ich fühle mich sehr wohl hier. Ich kannte Leipzig vorher nicht. Der Osten war mir bis dahin völlig unbekannt und ich habe die Stadt Leipzig erst im Zuge der Instituts-Verhandlungen kennengelernt. Ich selbst und auch meine Familie hat sich in Leipzig immer sehr wohl gefühlt. Es ist eine sehr angenehme und reizvolle Stadt und es war auch faszinierend zu sehen, wie sehr sich Leipzig verändert und entwickelt hat in den gut 25 Jahren, die ich nun hier bin.

Welches Erlebnis oder Ereignis aus den 25 Jahren Institutsgeschichte ist Ihnen besonders im Gedächtnis geblieben?

In unserer Institutsgeschichte gab es viele Highlights. Besonders gern erinnere ich mich jedoch an eine wunderbare internationale Konferenz, die kurz nach der Gründung unseres Instituts stattfand, das interdisziplinäre Walter-Andrejewski-Symposium „Mathematics in the Sciences“. Bei diesem trugen einige der besten Wissenschaftler der Welt vor – unter anderem der Träger des Nobelpreises für Chemie Manfred Eigen, Sir Roger Penrose, der erst im vergangen Jahr für seine Beiträge zur allgemeinen Relativitätstheorie den Nobelpreis für Physik erhielt oder Misha Gromov, einer der weltweit führenden Geometer, der 2009 mit dem Abelpreis ausgezeichnet wurde. Dies war ein herausragendes wissenschaftliches Ereignis, was unser Institut in der wissenschaftlichen Landschaft international gut verankert und positioniert hat und auf das wir sehr stolz sein können.

Welche Forschungsthemen hielten Sie in der Gründungsphase für besonders vielversprechend und wie haben sich diese entwickelt? Und im Gegenzug: Gibt es für Sie Forschungsthemen, die zunächst nicht im Fokus standen, aber im Laufe der Zeit deutlich an Bedeutung gewonnen haben?

Hier muss ich etwas weiter ausholen. Man etabliert sich als Forscher, indem man in einem Fachgebiet Spezialprobleme löst. Dies habe ich in der Mathematik gemacht. Ich war in meinem Gebiet ein Mathematiker, den man offensichtlich für fähig hielt, ein solches Institut mit zu gründen. Ich hatte aber schon einiges im Kopf, was ich gern entwickeln wollte – beispielsweise die Beziehungen zur Physik und zur Neurobiologie. Mit entsprechenden Forschungen hatte ich schon begonnen, aber im Laufe der Zeit haben diese eine große Eigendynamik entwickelt, als ich immer besser verstand, wie alle Wissenschaften miteinander zusammenhängen. Ich konnte dann mein Forschungsprofil durch die Möglichkeiten, die einem ein Max-Planck-Institut gewährt, so ausweiten, dass ich einen großen Bereich von Wissenschaften berühren und abdecken und mit neuen mathematischen Ideen durchdringen konnte. Wir arbeiteten also im Laufe der Zeit nicht mehr nur in der Mathematik, sondern auch viel zur Theoretischen Physik – dies vor allem in den Anfangsjahren und wesentlich geprägt durch die Interessen von Prof. Zeidler. Zudem forschten wir sehr viel auf den Gebieten der mathematischen Neurobiologie und der mathematischen Biologie, was uns dazu bewog, den Bioinformatiker Peter Stadler als auswärtiges wissenschaftliches Mitglied an unser Institut zu berufen.

Im Laufe der Jahre entwickelte ich zudem vielfältige Kontakte zu Psychologen, Sozialwissenschaftlern und Ökonomen. Ich habe mich auch in der Wissenschaftsgeschichte engagiert und Wissenschaftsphilosophie betrieben und vieles mehr. Wissenschaft derart universell und vielseitig zu betreiben war die große Chance, die sich im Laufe der Jahre erst herauskristallisierte und sich dann außerordentlich dynamisch entwickelte. Dadurch ist es, so denke ich, gelungen, hier eine Arbeitsgruppe zu etablieren, die ziemlich einmalig in der ganzen Welt ist. Wir können die verschiedenen Wissenschaften auf der Basis einer sehr soliden und profunden Mathematik miteinander verbinden. Wir können die große Breite der Wissenschaft abdecken. Wir können auch in konzeptionelle Tiefen gehen. Und wir können interdisziplinär arbeiten. Dies ist etwas ganz Besonderes, das ich nirgendwo anders hätte verwirklichen können – sowohl die Freiheit zu erhalten, das zu tun, was man für richtig hält, als auch die entsprechenden Mittel hierfür zur Verfügung gestellt zu bekommen. Natürlich müssen wir uns schließlich am Erfolg unserer Projekte messen lassen, aber dies ist uns soweit gut gelungen, und wir konnten auch zusätzlich zu der Grundfinanzierung bedeutende und innovative Drittmittelprojekte insbesondere auf europäischer Ebene einwerben.

Sie haben zahlreiche talentierte junge Menschen in ihrer wissenschaftlichen Laufbahn begleitet. Welchen Rat geben Sie Ihren ehemaligen Doktoranden und Postdocs mit auf den Weg?

Zu allererst möchte ich sagen, dass es für mich immer eine große Freude ist, mit so vielen begabten, motivierten, fähigen, fleißigen und strebsamen jungen Leuten zusammenarbeiten zu können und diese  in neue wissenschaftliche Disziplinen einführen zu können, so dass sie anschließend selbst ihren eigenen Weg gehen können. Einen allgemeinen Rat kann man sicher nicht geben, denn dies ist von der jeweiligen Persönlichkeit abhängig. Es gibt kein universelles Konzept um erfolgreich zu sein. Aber ich glaube, ich habe im Laufe der Jahre ganz gut gelernt, die jeweiligen Stärken der einzelnen Personen gut zu erfassen und sie dann vielleicht auch in eine Richtung zu lenken, in der sie diese Stärken entfalten können und wo sich gleichzeitig ein Weg für eine erfolgreiche Karriere öffnen kann.

Nicht auf allen Themen, die wir für wichtig und für innovativ halten und die teilweise auch gut etabliert sind, lässt sich auch eine wissenschaftliche Karriere aufbauen. Deshalb sage ich den jungen Menschen: seid geistig offen, seid neugierig, macht etwas Neues, aber achtet auch darauf, dass dies bei den etablierten Institutionen so viel Resonanz findet, dass es geeignete wissenschaftliche Stellen eröffnet. Und es gibt natürlich auch viele begabte junge Leute, die nach ihrer Promotion Stellen in der Industrie, Wirtschaft und anderen Bereichen anstreben und auch hierbei sehr erfolgreich sind. Ich halte es für außerordentlich wichtig, dass wir als eine herausgehobene Forschungs- und Ausbildungsinstitution junge Menschen ausbilden, die auch außerhalb der Wissenschaft etwas sehr Nützliches und Wichtiges leisten. Wenn man in der Mathematik promoviert ist, stehen einem sehr viele Möglichkeiten offen. Man lernt in der Mathematik präzise zu denken und Strukturen abstrakt zu erfassen. Diese Fähigkeiten sind in vielen Bereichen hochgeschätzt, auch wenn vielleicht die konkreten mathematischen Methoden, die man gelernt hat, nicht mehr unbedingt zur Anwendung kommen.

Wie Sie bereits beschrieben haben, erforscht Ihre Arbeitsgruppe ein breites Spektrum mathematischer Themen. Wo sehen Sie unser Institut in den kommenden Jahren?

Ich habe so eine Breite der wissenschaftlichen Themen abgedeckt und so viele Wissenschaften berührt, wie es bei meiner Nachfolge mit Sicherheit nicht mehr der Fall sein kann. Ich bin in gewisser Weise ein wissenschaftlicher Exot in der Mathematik, vielleicht auch in der Max-Planck-Gesellschaft, so dass in Zukunft wahrscheinlich wieder eine engere Fokussierung sattfinden muss. Das ist durchaus gut, denn Mathematik kann nicht leben, ohne dass eine sehr erfolgreiche und tief in die Probleme eindringende Spezialforschung betrieben wird. Das Forschungsspektrum wird sich daher sicher wieder etwas verengen, was durchaus positiv ist für das Institut. Ich hoffe natürlich, dass die interdisziplinäre Breite, die ich versucht habe aufzubauen, irgendwie – zumindest als Geist – im Hintergrund weiterleben kann. Und dass ich vielleicht auch andere Leute dazu inspirieren konnte, etwas Vergleichbares zu versuchen.

Wie bewerten Sie generell die Rolle der Mathematik für die Zukunft?

Es stellt sich immer mehr heraus, dass die Mathematik eine der großen Zukunftswissenschaften ist. Vor 25 Jahren war die Mathematik in vielen Anwendungsbereichen wichtig und wurde immer wichtiger, was auch den Ausschlag zur Gründung unseres Instituts gab. Aber damals war beispielsweise noch nicht erkennbar, wie weit sich die Datenwissenschaften und die damit verbundenen Datenmengen, mit denen wir heute umgehen müssen, entwickeln würden. Es ist eine große Herausforderung an die Mathematik, diese heterogenen, komplexen, sehr großen und sehr unterschiedlichen Daten systematisch durchdringen zu können. Damit sind die Anwendungswissenschaftler mittlerweile überfordert. Dies wird auch eine Schwerpunktverlagerung innerhalb der Mathematik nach sich ziehen. So wird die Mathematik zusammenwachsen mit der Statistik und dem maschinellen Lernen, es wird um die Geometrie von hochdimensionalen Räumen gehen, die bisher noch nicht so sehr im Fokus stand, und vieles mehr. Deshalb glaube ich, und dies wird von vielen meiner Kolleginnen und Kollegen mitgetragen, dass die Rolle der Mathematik in der Zukunft enorm zunehmen wird. Sie wird eine große wissenschaftliche als auch gesellschaftliche Relevanz bekommen, um mit diesen Datenmengen, mit denen wir konfrontiert sind, vernünftig umgehen zu können, darin Strukturen zu entdecken und kreativ zu erforschen, wie man auf deren Basis unsere Zukunft gestalten kann. Was wirklich möglich ist, wird man erst in einiger Zeit sehen. Ich selbst werde in ein paar Jahren in den Ruhestand treten müssen. Inwieweit dies an unserem Institut oder in der Max-Planck-Gesellschaft oder an anderen Forschungseinrichtungen verwirklicht wird, weiß ich natürlich heute noch nicht.

Ihre Frau ist ebenfalls Mathematikerin, auch ihre Kinder haben teilweise eine wissenschaftliche Laufbahn eingeschlagen. Welche Rolle spielt die Mathematik in ihrem persönlichen Umfeld? Gibt es für Sie einen Tag ohne Wissenschaft?

Tage ohne Wissenschaft gibt es tatsächlich sehr selten bei mir, weil ich so viele Sachen mache und so spannend finde, dass ich die Energie und Zeit, die mir zur Verfügung stehen, soweit wie möglich auch auf diese spannenden Fragen verwenden möchte. Die Wissenschaft und das tägliche Leben gehen in gewisser Weise ineinander über. Ich lese sehr viel – Dinge, die teilweise mit meiner Forschung zusammenhängen oder auch Dinge, die einfach hängen bleiben und mich vielleicht nach 10 Jahren zu irgendetwas Neuem inspirieren. Ich beschäftige mich mit Themen, die einfach reizvoll, spannend und interessant sind. Das ist gar nicht so leicht zu trennen.

Sie feiern in diesem Jahr nicht nur das Institutsjubiläum, sondern auch Ihren 65. Geburtstag. Was wünschen Sie sich für unser Institut und für Ihre persönliche Zukunft?

Für die Zukunft unseres Institutes wünsche ich, dass auch nach mir das Institut innovativ bleibt, dass es Wissenschaft auf höchstem Niveau betreiben kann, dass es weiterhin gute junge Leute anziehen kann und ihnen erfolgreiche wissenschaftliche Karrieren eröffnet und vieles mehr. Ich denke, das wird auch so sein. Wir werden mit Sicherheit sehr gute Nachfolger für die derzeit offenen Direktorenstellen bekommen und die Max-Planck-Gesellschaft hat gut etablierte Mechanismen, die dafür sorgen, dass die Institute erfolgreich arbeiten. Da mache ich mir keine großen Sorgen.

Für mich selbst habe ich natürlich auch noch viele Projekte. In drei Jahren werde ich in den Ruhestand treten. Ich werde danach sicher auch noch aktiv bleiben. Ich habe im Laufe der Jahre so an die 20 Bücher geschrieben, aber ich habe noch viele Ideen und angefangene, auch teilweise fast fertige, Manuskripte für mindestens 10 weitere Bücher. Da kann ich in den nächsten Jahren noch sehr sehr viel machen, so lange mir Gesundheit und Schaffenskraft erhalten bleiben.

Lieber Prof. Jost, herzlichen Dank! Wir wünschen Ihnen alles erdenklich Gute.

Eine kleine Auswahl seiner Bücher

  • Jost, Jürgen: Leibniz und die moderne Naturwissenschaft
    Was hat ein Gelehrter des 17. Jahrhunderts noch für die heutigen Naturwissenschaften zu sagen? Eine ganze Menge, so zeigt sich in diesem Buch. 

    doi.org
  • Jost, Jürgen: Riemannian Geometry and Geometric Analysis
    Sein erfolgreichstes Buch, bereits in 7 Auflagen erschienen. Dieses etablierte Nachschlagewerk bietet seinen Lesern einen Zugang zu einigen der interessantesten Entwicklungen in der zeitgenössischen Geometrie.

    doi.org

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